Von der Globalisierung zurück zur Geopolitik
von Birgit Mahnkopf
[Für die Vorbereitung unserer Diskussionsrunde am 6.01.2023 dokumentieren wir nachfolgend einen Text von Birgit Mahnkopf, den die „Blätter für deutsche und internationale Politik“ im Oktober 2022 veröffentlichten.]
Anfang August sind die wohl einflussreichsten Klimaforscher der Welt in der renommierten Wissenschaftspublikation PNAS mit einer Nachricht an die Weltöffentlichkeit getreten, die unseren „Krieg gegen den Planeten“[1] in ein neues, grelles Licht rückt. Unter dem Titel „Climate Endgame“ plädieren die Wissenschaftler dafür, unbedingt die „worst-case-scenarios“ in den Blick zu nehmen, die sich aus einer Erhitzung des Erdklimas von 2,1 bis 3,9 Grad Celsius bis zum Ende des 21. Jahrhunderts ergeben werden. Denn dies ist der Pfad, auf dem wir uns befinden. Offensichtlich wurde die Komplexität der Wechselwirkungen in den Modellen des Weltklimarats IPCC grundsätzlich unterschätzt. [2] Doch es entsprach der Logik der Pariser Klimaverhandlungen im Jahr 2015, sich auf die in naher Zukunft bevorstehende eher niedrigere Erderhitzung von 1,5 Grad gegenüber dem vorindustriellen Level zu fokussieren –, nicht aber von der Möglichkeit einer weitaus gefährlicheren Entwicklung auszugehen. Die Gemeinschaft der Klimaforscher, die nicht als „Panikmacher“ diskreditiert werden wollte, hat dabei mitgespielt, Annahmen über eine nahende ökologische Katastrophe abzuschwächen. Von politischen Entscheidungsträgern, denen das System eines auf fossiler Energie basieren-den Industriekapitalismus als sakrosankt gilt, wird ohnehin das Schönreden und Schönrechnen erwartet. Doch auch NGOs haben sich am gefährlichen Spiel des Selbstbetrugs beteiligt – meist in der Überzeugung, dass politische Entscheidungen unbedingt „attraktiv“ erscheinen müssen, um wenigstens eine geringe Chance auf Durchsetzung zu haben.
Von einem schrittweisen und mit herkömmlichen Mitteln beherrschbaren Klimawandel sollte eigentlich nicht mehr gesprochen werden. In Zeiten einer vielerorts schon heute erlebten Klimakatastrophe und wachsender existenzieller Not muss mit einer Zunahme von gewaltsamen inner- und zwischenstaatlichen Konflikten gerechnet werden. In naher Zukunft ist, wie es in der Studie der Klimaforscher heißt, von „synchronem Scheitern“ auszugehen, das global auf Länder und Systeme ausgreifen könnte – vergleichbar der Domino-Dynamik, die die globale Finanzkrise der Jahre 2007/2008 in Bewegung gesetzt hat. Ist aber eine bestimmte Schwelle von Chaos erreicht – was alltagssprachlich ein Übermaß an Unordnung meint, im naturwissenschaftlichen Sinne aber vor allem die Unvorhersagbarkeit von Prozessen –, bedroht das synchrone Kollabieren von ökologischen und gesellschaftlichen Systemen die Zivilität im Umgang der Menschen miteinander, noch bevor ihre Zivilisation zu einem Ende kommt.
Die Wiederkehr geopolitischer Konfrontationen
Auf diese Entwicklungen wird aber weder in Europa noch in anderen Weltregionen mit politischen Maßnahmen reagiert, die den worstcase vermeiden könnten. Stattdessen erleben wir eine Zunahme geopolitischer Konfrontationen, wenn auch mit anderen Instrumenten als zu Beginn des 20. Jahrhunderts, mit anderen Akteuren und vor allem unter den damals noch nicht gegebenen Bedingungen von „Peak Everything“.[3]
In den vergangenen 30 Jahren wurde eine bereits historisch anormale Wachstumsdynamik, die mit dem Industriekapitalismus vor rund 250 Jahren ihren Anfang nahm, von der Geoökonomie nochmals in einen Prozess der „großen Beschleunigung“ versetzt. Dabei ging es stets um die Öffnung, Verknüpfung und Beherrschung von Märkten und Marktanteilen. Dies geschah vornehmlich, wenn auch nicht ausschließlich, durch den Einsatz von soft power: über die informelle Ausdehnung von Macht durch Norm- und Regelsetzung – etwa bei technischen Normen, aber auch bei Menschenrechtsstandards – oder durch eine indirekte Kontrolle über Regeln des Welthandelssystems. Ebenso bedeutsam war die Einflussnahme westlicher Industriestaaten über internationale Organisationen und eine Vielzahl von informellen Gruppierungen, wozu sowohl die business communities als auch NGOs gehörten. So sollten die Ziele geoökonomischen Wettbewerbs durchgesetzt werden: die Etablierung von Quasimonopolen; Machtausübung über das Territorium einzelner Nationalstaaten hinaus; Kontrolle von systemrelevanten Infrastrukturen; vor allem aber der privilegierte Zugang zu Ressourcen jeglicher Art.
Diese Ziele werden zunehmend mit den Mitteln der Geopolitik verfolgt. Dabei geht es keineswegs um eine geschichtsmächtige Konfrontation „des freien Westens“ mit einem „reaktionären Russland“ oder um die weltweite Verteidigung einer fiktiven „normengeleiteten Außenpolitik“ gegen autokratische Herrscher jeglicher Couleur. Auch bei der gegenwärtigen Verknüpfung von Territorien durch Machtpolitik geht es wieder um die Kontrolle von geographischen Räumen durch die Expansion in den Souveränitätsraum anderer Staaten – in der Luft, zu Land und im Meer – und dies mit dem Ziel, ökonomische und militärische Macht zu maximieren. Die Mittel, die dabei zur Anwendung kommen, sind teilweise die gleichen wie zuvor unter der Fahne der Globalisierung, etwa die Normsetzung durch finanzielle und entwicklungspolitische Hebel oder die Finanzierung, Planung und Erstellung von Infrastrukturen im Souveränitätsraum anderer Staaten. Doch kommen bei der neuen Geopolitik auch weniger „softe“ Instrumente zum Einsatz: der von einem staatsfremden Territorium aus gesteuerte Regime Change durch die Unterstützung ausgewählter Bevölkerungsgruppen; die Finanzierung von Aufständen oder neuerdings die durch einen Drohneneinsatz möglich gewordene Tötung unliebsamer Repräsentanten einer fremden Macht aus weiter Ferne. Selbstverständlich werden auch altbekannte Instrumente der Geopolitik nicht verschmäht: die Eroberung, Kontrolle und Verteidigung von Territorien in Stellvertreterkriegen und die militärische Intervention mit oder ohne Kriegserklärung.
Die übergeordneten Ziele geopolitischer Konfrontation lassen sich nur schwer eingrenzen, denn oft wird eine Vielzahl von Anliegen amalgamiert. Zumeist geht es aber um die Bewahrung nationaler Sicherheit, die Etablierung einer militärischen Vormachtstellung und/oder den Zugang von Investoren zu strategischen Ressourcen. Da aber im digitalen Zeitalter jedwede zivil nutzbare neue Technologie entweder ihren Ursprung in militärischen Anwendungen hat oder für diese eingesetzt werden kann, schließt sowohl die geopolitische Zielsetzung der Bewahrung nationaler Sicherheit als auch die Etablierung militärischer Vorherrschaft mit ein, dass „technologische Souveränität“ hergestellt und verteidigt werden muss. So sehen dies heute die beiden big player geopolitischer Konfrontation, die USA und China, und so sieht es auch der französische Präsident Emmanuel Macron, gleichsam stellvertretend für die EU. Doch auf welche geographischen Räume sind die geopolitischen Konflikte der Gegenwart konzentriert? Wer die Tagespresse verfolgt, könnte meinen, es ginge vornehmlich um die Ostgrenze der Nato. Aber bei der neuen Geopolitik geht es nicht um die Ukraine, auch wenn diese gemäß ihrer geographischen Lage unverrückbar ein Pufferstaat zwischen zwei Machtblöcken ist, mit begehrten Metallen, Mineralien und landwirtschaftlichen Ressourcen. Der Ukraine-Krieg ist aber fraglos Teil des Kampfes um eine „neue Weltordnung“ – zwischen den USA, dem angeschlagenen alten Hegemon, und China, dem zu Weltherrschaft aufstrebenden neuen Hegemon. Und schon lange vor seinem Ende hat dieser Krieg ein game change bewirkt – hinsichtlich der Rolle der EU im geopolitischen power play der USA.
Im Krieg um die »große Weltinsel«
Noch immer kreisen geopolitische Konflikte um dieselbe Region wie zu Beginn des 20. Jahrhunderts. Damals hatte der britische Geograph Halford MacKinder die riesige Landmasse des eurasischen Raums unter Einschluss Afrikas als die große „Weltinsel“ bezeichnet, die drei nah zusammenliegende Kontinente umfasst und das „Herzland“ der Welt darstelle. In diesem befinden sich heute die letzten größeren Ressourcen sowie die letzten vermuteten Reserven an fossilen Rohstoffen – und die weitaus größte Menge an Mineralien und Metallen, die für alle zivilen wie militärischen Technologien der Digitalisierung benötigt werden. Doch ebenso für die Erzeugung von Energie aus erneuerbaren Quellen und die E-Mobilität, für die chemische Industrie und die Flugzeugbranche sowie für die medizinische Ausstattung moderner Industriegesellschaften.
Bekanntermaßen wird diese riesige eurasische Landmasse seit einem Jahrzehnt von einem Akteur mit enormer finanzieller und technologischer Macht erschlossen. China will mit seiner Belt and Road Initiative durch ein trikontinentales Netz von Eisenbahnen, Öl- und Gaspipelines sowie industrieller Infrastruktur – darunter vor allem Kraftwerke, Häfen und Stromnetze – „den größten Markt mit unvergleichlichem Potenzial“ schaffen, so Präsident Xi Jinping in einer Rede von 2013 an der Nasarbajew-Universität in Kasachstan. Über seine Staatskonzerne sichert sich China zugleich den Zugriff auf viele „strategische“ Rohstoffvorkommen. Zugleich könnten Straßen- und Bahnverbindungen quer über den eurasischen Kontinent nach ihrer Fertigstellung einen im Vergleich zum Schiffsverkehr deutlich schnelleren Transport von Waren zwischen Osten und Westen ermöglichen, aber auch von Afrika nach Europa und Asien. Zudem wären diese Verkehrswege weniger als die bislang benutzten Wasserwege den Gefahren einer Blockade durch die USA und ihrer Verbündeten ausgesetzt. Weil China im Gegensatz zu den alten imperialen Mächten Europas und den USA den afrikanischen Kontinent niemals als einen „Nebenschauplatz“ behandelt hat, könnte der Volksrepublik gelingen, was alle hegemonialen Weltmächte seit 500 Jahren versucht haben: die Beherrschung der trikontinentalen Landmasse, auf der 70 Prozent der Weltbevölkerung leben.
Eurasien bleibt aber auch für die Europäer elementar wichtig, insbesondere hinsichtlich ihrer Energiesicherheit. Doch ist dies zugleich jene Region, von der Zbigniew Brzezinski, einflussreicher Berater der US-Regierungen von Ronald Reagan bis Barack Obama, einst schrieb, dass, wer diese riesige Landmasse beherrsche, auch die Welt beherrscht. Daher, so lautet seit den frühen 1990er Jahren das Credo der US-Außenpolitik, dürfe keine Macht die Fähigkeit erlangen, die (kontinentfernen!) USA aus Eurasien zu vertreiben. Diesem Zweck dienen die rund 750 US-Militärbasen in 80 Ländern, die einen „eisernen Ring um Eurasien“ gelegt haben und heute die erweiterte „pivot area“ des indo-pazifischen Raumes mit einschließen. Die National Security Strategy der USA, 2017 unter dem Titel „Great Power Competition“ veröffentlicht, macht dies unmissverständlich deutlich. Demnach befinden sich die USA und ihre Verbündeten in einem „gnadenlosen Konkurrenzkampf mit Russland und China“; dieser zwinge dazu, alles wirtschaftliche und technologische Potenzial voll zu entwickeln, um auch im indo-pazifischen Raum dem nach Weltherrschaft strebenden China Einhalt gebieten zu können.
Weil der Verfügbarkeit von Energiequellen dabei eine Schlüsselrolle zukommt, wird China zwar als Hauptgegner gesehen, Russland als Energielieferant aber gleichermaßen ins Visier genommen. Aus dieser Sicht dient Europa zum einen als militärischer Brückenpfeiler nach Eurasien, als eine „normale Großmacht“, die ihren konventionellen und atomaren Bündnisverpflichtungen nachkommen soll, also künftig in der Lage sein muss, selbst Krieg zu führen, und es sich nicht – wie insbesondere Deutschland – „im Speck von Exportweltmeisterschaften“ gutgehen lässt. Zum anderen wird die EU aber auch als ein großer Markt betrachtet, der entweder von US-amerikanischen oder von chinesischen (Tech-) Unternehmen erobert werden kann.
Die neuen Facetten der heutigen Geopolitik
Um Markteroberung und -beherrschung ging es auch beim Globalisierungsprojekt der 1990er Jahre und ebenso um die Plünderung aller energetischen wie nicht energetischen Ressourcen fernab der altindustriellen Zentren. Die heutige Geopolitik weist aber einige neue Facetten auf: Erstens bleiben die fossilen Energieträger – allen „grünen Verspechen“ zum Trotz – das „Lebensblut des Kapitalismus“. Denn nur durch ihre rücksichtslose Extraktion, ihre Konzentrierung und ihren über weite Strecken möglichen Transport sowie dank der vergleichsweise leichten Speicherung von energetisch dichter fossiler Energie kann weiter auf jene „Zauberformel“ gebaut werden, die das im historischen Vergleich gänzlich unnormale wirtschaftliche Wachstum der letzten 250 Jahre ermöglicht hat. Die Steigerung der Energieproduktion pro Hektar Land auf einem in seiner Fläche begrenzten Planeten.
Zweitens haben die meisten Öl- und Gasvorkommen ihre Höchstförderstände längst überschritten; nur in „Schurkenstaaten“ wie Iran, Venezuela und Russland ist dies noch nicht der Fall. Bei allen neu entdeckten Öl- und Gasfeldern nimmt der sogenannte Erntefaktor seit 2006 stetig ab; 2019 entfielen auf jedes Barrel neu entdeckten Öls fünf Barrel, die zu seiner Erschließung nötig waren. Da die Nachfrage aber immer noch weiter gestiegen ist, wurde die Förderung von unkonventionellem Öl aus der Tiefsee oder aus Teersanden sowie von Gas rentabel, das durch die technisch aufwendige und ökologisch überaus schädliche Methode des Aufsprengens von Gestein durch „horizontales Fracking“ gewonnen wird.
Durch den Fracking-Boom wurden die USA faktisch zum Selbstversorger beim Gas; seit geraumer Zeit versuchen sie nun, einen geopolitischen Nutzen daraus zu ziehen. So setzte bereits Präsident Donald Trump die europäischen Verbündeten wegen ihrer Öl- und Gasimporte aus Russland mit Strafzöllen unter Druck. Doch erst seinem Nachfolger Joe Biden war es vergönnt, am 2. Februar 2022 – also vor dem Einmarsch Russlands in der Ukraine – gegenüber der Presse verkünden zu können, dass die Inbetriebnahme der Nord Stream 2-Pipeline von Russland nach Deutschland durch die USA verhindert werde. Seither steht dem Ausbau der Flüssiggas-Infrastruktur auf beiden Seiten des Atlantiks nichts mehr im Wege – und die Absatzmärkte für teures US-Fracking-Gas in Europa sind auf Jahrzehnte gesichert. Schätzungen gehen davon aus, dass Europa statt der bisherigen rund 20 Mrd. Kubikmeter Flüssiggas im Jahr 2030 170 Mrd. Kubikmeter aus den USA beziehen wird; das wären weit mehr als die 157 Mrd., die bislang aus Russland kamen.
Drittens ist mit zahlreichen Log-in-Effekten zu rechnen, die mit dem Aufbau und dem Erhalt von fossilen Infrastrukturen verbunden sind: Pipelines erweitern und binden die Reichweite von staatlicher Macht und Einfluss und sorgen dafür, dass Regierung(en) und Wirtschaft(en) am einen Ende Kontrolle über ihre Pendants am anderen Ende ausüben können. Für die eine Seite stellen Pipelines hochriskante und sehr teure Investitionen dar, die sich nur bei langfristigen Verträgen rentieren. Für die andere Seite sorgen sie für einen indirekten Zugriff auf Fördergebiete außerhalb des eigenen Souveränitätsraums und ermöglichen es, durch Druck, Erpressung, Sanktionen oder durch militärische Intervention Einfluss auf die Fördermenge und den Preis von Öl und Gas zu nehmen. Was für Pipelines gilt, spielt auch (in modifizierter Form) beim Bau von Stromnetzen eine große Rolle. Wenn sich nun EU-Staaten aus der Abhängigkeit von russischen Energielieferungen befreien wollen, ihren weiter hohen Energieverbrauch aber zukünftig durch Flüssiggasimporte (insbesondere) aus den USA decken, werden lediglich die Pole der Abhängigkeit ausgetauscht.
Ein entscheidender Unterschied zwischen den beiden Varianten von Logins in fossile Infrastrukturen besteht aber darin, dass viertens die Substitution von Pipeline-Gas aus Russland durch Fracking-Gas aus den USA nicht nur eine Entscheidung für die umweltschädlichere Variante von fossilem Gas ist, sondern vor allem auch für das auf Dauer deutlich teurere Produkt. Das verweist auf eine oft übersehene Dimension der neuen Geopolitik um Energieträger: Es geht nie allein um die Mengen an fossilen Brennstoffen, von denen der moderne Industriekapitalismus abhängig ist. Es geht immer auch um „paper oil“ und „paper gas“, also um die auf den internationalen Terminbörsen von privaten Händlern für die wahrscheinliche Nachfrage von morgen generierten Preise von Öl und Gas – und um die Währung, in der diese fakturiert werden. Auch in dieser Hinsicht wird das Jahr 2022 wohl eine „Zeitenwende“ einleiten – zu weiter steigenden Preisen bei den fossilen Energieträgern und damit zu einer Stabilisierung des in den vergangenen Jahren angeschlagenen Dollars als der Währung, in der nicht nur das „Lebensblut des Kapitalismus“, sondern auch die meisten der weltweit gehandelten Waren und Dienstleistungen beglichen werden.
Fünftens ist daran zu erinnern, dass mit den Klimaverhandlungen bei der COP26 in Glasgow im Winter 2021 und der Ankündigung von Green Deals in Europa und in den USA ein starkes Signal an Investoren gesendet werden sollte, dass sich Geschäfte mit fossilen Energieträgern längerfristig nicht mehr lohnen werden. Es wäre also klug, möglichst umgehend in „grüne“ Energieträger und dazugehörige Infrastrukturen zu investieren. Doch heute werden, parallel zu den vielen neuen explosiven Bomben, für die es seit Beginn des Ukraine-Krieges in Europa eine wachsende Nachfrage gibt, neue riesige carbon bombs gebaut. So haben Journalisten des „Guardian“ die fast 200 neuen großen Öl- und Gasprojekte bezeichnet, die derzeit vorangetrieben werden; allein diese werden zu den 36,3 Mrd. Tonnen CO2, die im Jahr 2021 global emittiert wurden, noch einmal eine Mrd. Tonnen CO2 hinzufügen.
Vergessen scheint auch, dass sich die Staatenvertreter auf der Weltklimakonferenz in Glasgow dazu verpflichtet hatten, ab 2023 keine neuen Kohle-, Öl- oder Gasprojekte mehr mit öffentlichen Mitteln zu fördern. Doch schon auf der G7-Tagung im Juli dieses Jahres hat Kanzler Olaf Scholz klargestellt, dass sehr wohl öffentliche Mittel aus Deutschland fließen werden, etwa wenn Senegal – zusammen mit BP und weiteren Investoren – ein großes Gasfeld an seiner Küste, das mitten in einem Naturschutzgebiet liegt, für die Gewinnung von Flüssiggas erschließt und die Kapazität der LNG-Terminals stufenweise auf bis zu 10 Mrd. Kubikmeter ausbauen würde. Bei diesem und anderen Projekten in Afrika geht es freilich nie darum, die vielen Millionen Afrikaner, denen Strom für einfachste Verwendungszwecke wie das Kochen fehlt, mit Energie zu versorgen, sondern immer um die „Energiesicherheit“ extra-territorialer Mächte.
Der European Green Deal wird zur Makulatur
Kaum hatten der russische Angriffskrieg auf die Ukraine und geopolitische Schachzüge, die keineswegs allein auf das russische Konto gehen, uns mit der Notwendigkeit konfrontiert, im kommenden Winter mit weniger Energie auskommen zu müssen, wurden nahezu alle energiepolitischen Weichen, die einen European Green Deal einleiten sollten, in Windeseile demontiert. Die Versprechungen des „Fit for 55-Programms“ der EU-Kommission waren zwar auch 2021 kaum mehr als eine „Nebelkerze“, wenn nicht ein großer (Selbst-)Betrug.[4] Doch der Finanz- und Wirtschaftskrieg, mit dem die Nato-Staaten Russland in die Knie zwingen wollen, machen den Green Deal nun zu einem regelrechten „fake“-Programm.
Schon das im März beschlossene REPower EU-Programm ist ein energiepolitischer Skandal, erlaubt es doch für die Dauer von 5-10 Jahren fünf Prozent mehr Kohleverbrennung in der EU – oder 100 TWh pro Jahr, was in etwa dem Energieverbrauch Belgiens entspricht. Allerdings wird die Kohle nun nicht mehr aus Russland, sondern per Schiff von weiter her, aus dem fernen Australien, aus Südafrika oder Kolumbien beschafft. Der parallele Ausbau der Atomenergie in Ungarn, Tschechien, der Slowakei, Belgien und Frankreich wird dazu führen, dass, wenn es im Sommer 2030 ein Überangebot an Strom geben sollte, Millionen Megawatt an erneuerbarer Energie aus dem europäischen Stromnetz herausgeworfen werden müssen – denn Atomkraftwerke lassen sich ja nicht kurzfristig abstellen.
Selbstverständlich treibt ein „Energiekrieg“, der mit dem von den USA erzwungenen Aus für die Nord Stream 2-Pipeline begonnen hat, die Preise für alle fossilen Energieträger nach oben und damit auch die Preise für viele Nahrungsmittel und Industriegüter, die von diesen abhängig sind. Überraschen kann dieser Zusammenhang aber nur diejenigen, die sich bislang über die Abhängigkeit billiger Lebensmittel von billigen Energieträgern keine Gedanken gemacht haben.
Verwunderlich ist ebenso wenig, dass sich die Nettoeinnahmen der großen Energiekonzerne im Jahr 2022 gegenüber dem Vorjahr verdoppelt haben. Einen Großteil der „windfall profits“ nutzen die Aktionäre von Shell, BP und Co für Dividendenausschüttungen und für den Rückkauf eigener Aktien. Dies geschieht wohl auch in der Annahme, dass sich Investitionen in fossile Infrastrukturen längerfristig womöglich nicht rentieren könnten – entweder als Folge einer weltweiten Rezession oder weil Anzeichen eines Kollabierens des Planeten nicht länger ignoriert werden können.
Russisches Pipeline-Gas entweicht freilich nach wie vor aus der Erde und wird, da sich Pipelines nun einmal nicht in eine andere Himmelsrichtung drehen lassen, größtenteils abgefackelt, verursacht also beachtliche Mengen an klimaschädlichen Emissionen. Gleichzeitig heizt vor allem die Bundesregierung die Nachfrage nach dem noch umweltschädlicheren Fracking-Gas an – egal woher dieses kommt und egal, zu welchem Preis es zu bekommen ist. Dazu werden am Golf von Mexiko wie an den europäischen Küsten gigantische Investitionen in neue Infrastrukturen zur Verflüssigung, für den Transport und die Wiedervergasung von Fracking-Gas getätigt. Diese Investitionen rentieren sich aber nur dann, wenn die neuen fossilen Infrastrukturen noch in 30 Jahren genutzt werden – also zu einem Zeitpunkt, zu dem die EU doch längst „klimaneutral“ sein wollte.
Technologische Souveränität und der Kampf um Metalle und Mineralien
Energiesicherheit soll in der EU durch die Elektrifizierung von Verkehr, Industrie und Wohnen erreicht werden. Dafür bedarf es eines enormen Ausbaus der Erzeugungskapazität für Strom aus erneuerbaren Quellen – und folglich ebenso des Ausbaus von nationalen, transnationalen und transkontinentalen Stromnetzen. Wie Pipelines, so verbinden auch Stromnetze politisch souveräne Gebiete miteinander und erzeugen wechselseitige Abhängigkeiten. Auch bei Stromnetzwerken handelt es sich um „kritische Infrastrukturen“, die vor allen möglichen Bedrohungen und Gefährdungen geschützt werden müssen, nicht zuletzt vor Aktionen, die heute als „hybride Kriegsführung“ bezeichnet werden. Doch anders als bei Pipelines für Öl und Gas erwächst geopolitische Macht bei Stromnetzwerken vor allem aus der Fähigkeit, Normen und Regeln zu bestimmen, nach denen diese geplant und miteinander verkoppelt werden, sowie aus dem Besitz der Technik, die die Stromflüsse kontrollieren kann. [5]
Das hatte selbstverständlich auch die EU-Kommission im Blick, als sie im Jahr 2020 „technologische Souveränität“ für ihre zwei wichtigsten Zukunftsprojekte reklamierte – für die Digitalisierung von Wirtschaft und Gesellschaft und für den Ausbau der Infrastruktur für erneuerbare Energien. Nach dem bewährten EU-Modell der Ausweitung von Macht durch den Transfer von Regelungen, Normen und Standards in konzentrischen Kreisen sollen die künftigen, kontinentübergreifenden Stromnetzwerke in der Hand von europäischen Unternehmen sein und von hiesigen Autoritäten reguliert und kontrolliert werden –, um dann schrittweise in den Souveränitätsraum von außereuropäischen Staaten ausgedehnt zu werden. Doch wieder ist mit China zu rechnen, welches entlang der Neuen Seidenstraßen mit dem Export von Anlagen zur Stromerzeugung auch seine Regelungen, Normen und Standards exportiert.
Bei der Geopolitik um technologische Standards, die die Abdeckung mit dem neuesten Mobilfunkstandard ebenso umfassen wie die Beherrschung von geschlossenen Wertschöpfungsketten für die Produktion aller neuen Technologien, haben die Europäer nicht die besten Karten in der Hand. Denn chinesische Unternehmen sind ja bereits an Stromnetzen in Griechenland, Italien und Portugal beteiligt und verfolgen überall das Ziel, eine von China ausgehende und auf China gerichtete Konnektivität der Stromnetze sicherzustellen. Dabei erweist es sich als großer Vorteil der Volksrepublik, dass sie viele jener Rohstoffe, die für die Elektrifizierung und Digitalisierung von wirtschaftlichen und militärischen Aktivitäten benötigt werden, im eigenen Land fördert oder mit dem Ziel importiert, sie zu Vorprodukten für ihre spätere Anwendung in industriellen Prozessen zu verarbeiten. Das ist ein meist eher schmutziges Geschäft, aus dem sich europäische und US-Unternehmen in den vergangenen Jahren zurückgezogen haben, um sich auf die höherwertigen (ergo: lukrativeren) Schritte in der Wertschöpfung zu konzentrieren.[6] Heute will sich China aber nicht länger damit begnügen, Rohstoffe in großen Mengen zu fördern und in Vorprodukte zu verwandeln, sondern nutzt alle seine Möglichkeiten, um diese in höherwertige Endprodukte einzubauen. Mehr noch als pandemiebedingte Störungen der globalen Wertschöpfungsketten bringt das zunehmend die Ordnung der bisherigen globalen Arbeitsteilung durcheinander.
Eine offene Kriegserklärung an die bio-physischen Systeme der Erde
Die geopolitischen „Spielzüge“, die uns der Sommer 2022 beschert hat, bieten wenig Anlass zu Optimismus: In Reaktion auf den Ukraine-Krieg werden nicht allein in Europa vermehrt Kohle- und Atomkraftwerke in Betrieb gehalten und sogar ausgebaut. Überall werden neue Öl- und Gasprojekte in Gang gesetzt. Das lässt sich nur als eine offene Kriegserklärung an die bio-physischen Systeme der Erde bezeichnen. Wird dieser „Krieg gegen den Planeten“ nicht umgehend gestoppt, katapultieren wir uns bis zum Ende des Jahrhunderts zurück zu Temperaturen, wie sie zuletzt während des Eozäns vor rund 50 Millionen Jahren herrschten, lange bevor „Der Mensch im Holozän erschienen ist“ (Max Frisch).
Absehbar ist, dass die geopolitische Dominanz der USA gefestigt wird – auf der Basis ihres „digital-militärisch-industriellen Komplexes“ und einer rücksichtslosen Verfolgung von Großmachtsinteressen, doch unter vollständiger Vernachlässigung einer umweltpolitischen Agenda. Recht wahrscheinlich ist zudem, dass Russland zumindest längerfristig ökonomisch geschwächt wird und sich – in einer China gegenüber untergeordneten Rolle – nach Süden und Osten wendet. Dabei wird das Land nicht nur seine Energierohstoffe und viele agrarische und mineralische Ressourcen zu Dumpingpreisen verscherbeln müssen, sondern auch – genauso wie die Ukraine – sämtliche ökologischen Verpflichtungen in den Wind schreiben.
Noch immer gibt es die Möglichkeit, dass China zu der Macht werden könnte, die eines Tages die „Weltinsel“ kontrolliert. Das setzt aber voraus, dass die USA nicht gerade deshalb baldmöglich einen militärischen Konflikt mit China suchen – solange ihre Seestreitkräfte den chinesischen noch überlegen sind. Zu einem neuen Hegemon könnte China überdies nur dann werden, wenn es für den bedrohlich gespannten Nexus von Energie-Wasser-Nahrungsmittelversorgung im eigenen Land eine zukunftstaugliche Lösung findet. Das Schicksal der „Nicht-OECD-Welt“ kümmert ohnehin keinen der big player. Besonders traurig aber ist das Bild, das Europa abgibt. In „selbstgewählter Vasallentreue“[7] ist es in die atlantische Allianz eingebunden und wird ökonomisch sehr geschwächt aus seinem militärischen und ökonomischen Engagement für die Ukraine hervorgehen – durch die überstürzte und schlecht durchdachte Abkehr von Energielieferungen aus Russland und durch seine fehlgeleiteten Ausgaben für die Aufrüstung, die zusammen mit Inflation und Lieferengpässen die Wettbewerbsfähigkeit der europäischen Industrie drastisch verringern. Zudem könnte eine tiefe Rezession auch einen Verfall des Euro mit sich bringen. Dabei befindet sich Europa eigentlich in einer vergleichsweise vorteilhaften Lage: platziert in den mittleren Breiten, die selbst unter den absehbaren Entwicklungen des Weltklimas wenigstens zu großen Teilen noch bewohnbar bleiben; ausgestattet mit einer hohen Diversität an Produktions-, Wissens- und Technologiestrukturen, einem noch immer dichten Netz von sozialen Infrastrukturen und mit relativ gebildeten Bevölkerungen. Dazu kommt das Wissen um eine lange Geschichte von schrecklichen Kriegen zwischen seinen Bewohnern und einer noch schrecklicheren Geschichte von Versuchen, innereuropäische Probleme durch geopolitische Expansion lösen zu wollen.
Vor diesem Hintergrund sollte es uns leichter fallen als Menschen auf anderen Kontinenten, den steinigen Pfad in eine noch lebenswerte Zukunft zu wählen. Dieser müsste freilich mit dem zerstörerischen Prinzip brechen, die Energieproduktion pro Hektar Land auf der „begrenzten Kugelfläche der Erde“ (Immanuel Kant) weiter steigern zu wollen. Stattdessen müsste sofort damit begonnen werden – durch Eingriffe in die Eigentums- und in die Marktordnung –, unseren Energieverbrauch ebenso wie unseren Rohstoffverbrauch radikal zurückzuführen – zunächst auf das Niveau der 1970er Jahre, dann schrittweise auf das der 1960er und schließlich auf das der 1950er Jahre. Das gäbe dem großen „Rest der Erdenbürger“ zumindest eine Chance zu überleben, und wir würden, dank der in den vergangenen 70 Jahren realisierten technischen und – so bleibt zu hoffen – auch dank der sozial-moralischen Fortschritte, keine zivilisatorische Rückentwicklung antreten müssen.
Anmerkungen
[1] Elmar Altvater und Birgit Mahnkopf, Die Krise des Kapitalismus eskaliert zum Krieg gegen den Planeten, in: Jahrbuch Pädagogik 2013: Krisendiskurse, Frankfurt a. M. 2013.
[2] Luk Kemp u.a., Climate Endgame: Exploring catastrophic climate change scenarios, www.pnas.org, 1.8.2022.
[3] Richard Heinberg, Peak Everything, Gabriola Island 2010.
[4] Birgit Mahnkopf, Nebelkerze Green New Deal, in: „Blätter“, 6/2021, S. 75-84, sowie Green Deal als Pfad ökologischer Transformation im Kapitalozän, in: Jahrbuch 2022 der Erich Fromm Gesellschaft (im Erscheinen).
[5] Kirsten Westphal, Maria Pestukhova und Jacobo Maria Pepe, Geopolitik des Stroms, SWP-Studie 14/2021.
[6] DERA, Wirtschaftsmächte auf dem metallischen Rohstoffmarkt – Ein Vergleich von China, EU und USA, Berlin 2020.
[7] Michael T. Klare, The Ukraine War´s Colleteral Damage, < href=“www.tomdispatch.com“ target=“_blank“>www.tomdispatch.com, 22.5.2022.